BART #9

Magazin für Kunst und Gott
2015
Magazin

Verlag: BART Magazin, c/o Andreas Widmer, Bütziackerstrasse 48, CH-8406 Winterthur, Switzerland.

Maße: 21 x 27,9 cm

Seiten: 54
€19.26
Bildbetrachtung

Schlachtfeld der Sünde

Der Blick des Betrachtenden folgt dem Körperbild der Frau anhand der minutiösen malerisch-fotografischen Selbstinszenierung der Künstlerin: Von der hellen Stirn aus über das Gesicht gleitend sucht man vergeblich den Blick der Sitzenden, der wie ins Leere zu gehen scheint. Verletzlich und weiss schimmert ihr Dekolleté. Ihre Brüste schimmern durch den dünnen hellgrauen und halbtransparenten Stoff der Oberbekleidung. Der Bewegung ihren Armen und Händen folgend findet der Blick des Betrachters schliesslich Halt auf ihrem tiefroten und deutlich gerundeten Unterleib. Es ist der Leib einer schwangeren Frau. Sie umrahmt das werdende Kind mit ihren Händen, umfängt es wie eine ganze Welt. Wie eine Kugel, die sie in Händen hält, so erscheint das neue Leben in ihr - ruhend, geschützt und dem Zugriff des Betrachtenden entzogen. Ganz anders die Frau, die auf merkwürdig ambivalente Art und Weise an- und ausgezogen zugleich erscheint. Sie trägt tiefrote Strumpfhosen, die den Blick auf ihren Unterleib ziehen - auf ihr spitz angewinkeltes rechtes Knie, das hellrot und wie von einem Licht beschienen aufleuchtet. Das linke Bein ist seitlich weggedreht vom Betrachter. Dennoch bleibt ihr Körper dem Blick des Betrachtenden ausgesetzt. Der Kopf der halb an-, halb ausgezogenen Frau ist seitlich und leicht nach vorne geneigt. Ihr hellbraunes Haar ist sorgfältig gescheitelt und in ihrem Nacken hoch gesteckt. Im schwarzbraunen Hintergrund und hinter ihrem blossen Nacken stehend, sind helle Schatten und Konturen männlicher Gesichter zu entdecken. Man erkennt sie nicht im Detail, sieht aber, dass es mehrere Männer sind, vielleicht deren fünf oder sechs. Und man erahnt mehr als man sieht: Bärte und harkige Nasen, ihre Blicke und unruhige Präsenz im Rücken der Frau. The Sinner - so lautet der Titel des Bildes, mit dem Katerina Belkina den Internationalen Lucas-Cranach-Preis gewonnen hat. Sie verweist darin auf eigensinnige Weise auf das Bild Christus und die Ehebrecherin, das die Erzählung Johannes 8,1-11 aufgreift.

Der Bildvergleich macht deutlich: Belkina löst dabei die Figur der Frau aus der Menge und der Begegnung mit dem Christus heraus und stellt sie ins Zentrum des Bildes. Die bohrenden Blicke in ihrem Rücken sind nur noch zu erahnen. Die schützende Hand des Christus, der bei Cranach die rechte Hand der Frau hält, liegt nun zusammen mit der linken Hand auf ihrem eigenen Leib. Die Grundaussage von Cranach wird zugespitzt: Die Sünde ist - anders als der Bildtitel bei Cranach dies nahe zu legen scheint - gar nicht auf dem Gesicht der Frau zu entdecken, sondern in den vernichtenden Blicken und tödlichen Gesten, die sich um sie herum anbahnen: Im Griff nach dem Stein unter Berufung auf das Gesetz und drohende Lunchiustiz. Damit erschliesst sich für den Betrachtenden in Belkinas Bild etwas vom Sündenverständnis in biblisch-reformatorischer Tradition: Sünde ist nicht als spezifische Handlung oder bestimmtes verwerfliches Tun des anderen erkennbar. sondern ausschliesslich im Blick auf die eigene Existenz. Sünde wird erkennbar dort wo mein (eigenes) Leben der Destruktivität und der Entfremdung längst schon entrissen ist. «Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie!» (Johannes 8.7b). Gnade und Freispruch zu neuem Leben, wie sie dem Menschen durch Gott widerfahren, stehen in beiden Bildern im Zentrum. Doch die verstörende Radikalität dieser Aussage hat Belkinas The Sinner auf eindrückliche Art und Weise ins Bild gebracht.




 


Lucas Cranach d. J. – Christus und die Ehebrecherin diente als Vorbild für The Sinner.

 

ZDB-ID: 2775339-6
67 
von 88